Das Kippmodell der Nachhaltigkeit
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Dieser Artikel wurde in "Der Rabe Ralf" - Ausgabe August/ September 2021 veröffentlicht:


Mit dem „Kippmodell der Nachhaltigkeit“ stellt Timo Heimberger ein neues Nachhaltigkeitsmodell vor, das unter anderem erstmals Kipppunkte integriert. Das Modell verdeutlicht die Notwendigkeit der Veränderung eines nicht zukunftsfähigen Gesellschafts- und Wirtschaftssystems.


„Dabei fällt mir der Mann ein, der aus dem 10. Stock gefallen ist.“ – „Was war mit dem?“ – „Er hat bei jedem Stockwerk, an dem er vorbeikam, gesagt: So weit ging’s gut.“ (aus: Die glorreichen Sieben. John Sturges. USA 1960)


Der Begriff der Nachhaltigkeit erfreut sich in den letzten Jahren zunehmender Beliebtheit. Leider geht mit dieser Beliebtheit auch eine gewisse Beliebigkeit einher. Für die einen ist „Nachhaltigkeit“ in erster Linie ein rhetorisches Stilmittel, ein Wohlfühlbegriff, der allerdings keinerlei Relevanz für das (eigene) Handeln besitzt. Für die anderen ist er ein Kampfbegriff, der die gegenwärtigen Gesellschafts- und Wirtschaftsstrukturen radikal in Frage stellt. Auch innerhalb der Nachhaltigkeitswissenschaft existieren Konfliktlinien: Zum Beispiel bei der Frage, ob unbegrenztes Wirtschaftswachstum auf einem endlichen Planeten möglich ist und bei der Frage, welche Nachhaltigkeitsdimensionen es gibt und wie sie zu gewichten sind.


Welches Bild wir uns von Nachhaltigkeit machen, kann man an den am weitest verbreiteten Nachhaltigkeitsmodellen erkennen. Das „Säulenmodell“ stellt drei Dimensionen der Nachhaltigkeit – Ökologie, Soziales und Ökonomie –  als Säulen, die das Dach „Nachhaltigkeit“ tragen, im Stile eines griechischen Prunkbaus dar. Diese Darstellungsform stützt den Irrtum, dass Nachhaltigkeit etwas für die Wohlhabenden sei, etwas, das man sich leisten können müsse. Dabei sind doch gerade arme Bevölkerungsgruppen am stärksten gefährdet durch eine ökologische und gesellschaftliche Krise, an der sie die geringste Verantwortung tragen. Die Festigkeit eines Säulenbaus verdrängt des Weiteren die Labilität und Wandelbarkeit der Ökosysteme und vermittelt eine dauerhafte Sicherheit, die es nicht gibt. Zudem ist kritisch zu werten, dass ein Gebäude auch mit zwei intakten Säulen standhaft sein kann. Insofern könnte das Dach der Nachhaltigkeit auch getragen werden, wenn die „Umwelt“-Säule wegbricht, was logischerweise in der Praxis unmöglich ist. Im „Säulenmodell“ sind die Dimensionen gleich dimensioniert und gewichtet. Auch beim „Schnittmengenmodell“ und dem „Nachhaltigkeitsdreieck“ ist das so. Diese, auch oft verwendeten Modelle, sind zudem sehr abstrakt und wirken dematerialisiert.


Das „Kippmodell der Nachhaltigkeit“ entstand aus einer Unzufriedenheit mit den beschriebenen Modellen heraus. Es beruht im Wesentlichen auf folgenden Überlegungen: Für Nachhaltigkeit müssen drei Dimensionen berücksichtigt werden. Für die ökologische Dimension ist wesentlich, dass die Ökosysteme und somit die Lebensgrundlagen der Menschen erhalten werden. Über die soziale Dimension soll allen Menschen heute und in Zukunft ein menschenwürdiges Leben gesichert werden. Bei der Dimension „Ökonomie“ geht es um die Befriedigung der materiellen menschlichen Bedürfnisse heute und in Zukunft. Wichtig ist zu beachten, dass diese Dimensionen nicht isoliert betrachtet, sondern in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit verstanden werden müssen.


Die Dimensionen der Nachhaltigkeit haben nicht dieselbe Wertigkeit. Die Ökonomie ist ein Teilbereich der Sozialwissenschaften und Gesellschaftssysteme können nicht ohne ein ökologisches Fundament existieren. Daher werden die drei Dimensionen als Kugel- bzw. Kreisausschnitte dargestellt, die aufeinander basieren. Kreisausschnitte deshalb, weil damit ein Kippen grafisch darstellbar wird. Dreidimensional wird das noch eindrücklicher –  bei verwirklichter Nachhaltigkeit sind die Dimensionen in Balance.


In einer nachhaltigen Gesellschaft ist weder für extreme Armut noch für extremen Reichtum Platz. Armut ist nicht vereinbar mit den Werten, die Nachhaltigkeit beinhaltet (z.B. die Menschenwürde). Reichtum geht in der Regel mit einem nicht-nachhaltigen Ressourcenverbrauch einher. Je reicher ein Mensch ist, desto höher ist im Durchschnitt sein ökologischer Fußabdruck.


Im Modell werden die bereits 1972 im Bericht des Club of Rome konstatierten „Grenzen des Wachstums“ definiert über eine rote Linie, die durch „Good Global Governance“ festgesetzt wird. Das Good-Governance-Konzept wurde ursprünglich von der Weltbank entwickelt. Es wurden Kriterien für „Formen der kollektiven Regelung gesellschaftlicher Sachverhalte“ (Nuscheler 2013) festgelegt, die für eine Entwicklung sogenannter „Entwicklungsländer“ förderlich sind: Rechtsstaatlichkeit, funktionierende Verwaltungsstrukturen, Transparenz, Verantwortlichkeit der Regierenden gegenüber den Regierten, Bekämpfung von Korruption. Der Entwicklungsausschuss der OECD erweiterte den Kriterienkatalog um soziale und ethische Komponenten: Einhaltung der Menschenrechte, Partizipation und Demokratisierung. Die Erweiterung um das Wort „global“ ist nötig, weil solche Strukturen global verwirklicht werden müssen (die Klimakrise lässt sich beispielsweise nicht national lösen), auch wenn derzeit kaum vorstellbar ist, wie das verwirklicht werden kann.


Die Namensgebung des Kippmodells ist angelehnt an das Konzept der Kipppunkte. Kipppunkte sind „nicht-lineare Prozesse“, die „irreversible Veränderungen bewirken und „substantielle Auswirkungen auf die Lebensgrundlagen eines Großteils der Menschheit haben können“ (WBGU 2014). Das Überschreiten von Kipppunkten kann für die Menschheit als Ganze existenzgefährdend sein und eine Nachhaltige Entwicklung unmöglich machen. Deshalb ist eine Integration der Kipppunkte in ein Nachhaltigkeitsmodell erforderlich. Neben den allseits bekannten ökologischen Risiken wie z.B. Klimakrise und Artensterben drohen auch soziale Kippunkte beispielsweise durch zunehmende soziale Ungleichheit.


Das Kippmodell der Nachhaltigkeit kann in der Bildungsarbeit zum Einsatz kommen. Interessant ist es, die Bestandteile des Kippmodells so anzuordnen, dass der Ist-Zustand dargestellt wird, also das „Kippmodell der nicht-nachhaltigen Entwicklung“. Über diese Darstellungsform kann – als stummer Impuls – ein Einstieg in das Thema erfolgen. Erfahrungsgemäß regt es sehr zu Diskussionen an.


Im Rahmen dieses Artikels wurden einige Gedankengänge ausgespart, andere sehr verkürzt dargestellt. Wer mehr Informationen zum „Kippmodell der Nachhaltigkeit“ möchte, kann diese im Buch zum Modell nachlesen: „Die Menschheit in Schieflage“ erschien im Oekom-Verlag und kann in jeder Bücherei oder online bestellt werden.



Literaturliste:

  • Atkinson, Anthony B. (2017): Ungleichheit. Was wir dagegen tun können. Bonn: bpb.
  • Brand, Ulrich / Wissen, Markus (2017): Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus. München: Oekom.
  • Grunwald, Armin / Kopfmüller, Jürgen (2012): Nachhaltigkeit. Frankfurt/ New York: Campus.
  • Hauff, Volker (Hrsg.)(1989): Unsere gemeinsame Zukunft – Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung. Greven: Eggenkamp.
  • Heimberger, Timo (2019): Die Menschheit in Schieflage. Ein neues Nachhaltigkeitsmodell: Was passiert, wenn wir ökologische und soziale Kipppunkte überschreiten. Oekom: München.
  • Jackson, Tim (2017): Wohlstand ohne Wachstum. Grundlagen für eine zukunftsfähige Wirtschaft. München: Oekom.
  • John, Klaus Dieter: Wirtschaftswachstum und Nachhaltigkeit aus systemdynamischer Perspektive. In: Von Hauff, Michael (Hrsg.) (2014): Nachhaltige Entwicklung. Aus der Perspektive verschiedener Disziplinen. Baden-Baden: Nomos. S. 41 - 74
  • Klein, Naomi (2014): Die Entscheidung. Kapitalismus vs. Klima. Frankfurt a. M.: S. Fischer.
  • Kopatz, Michael (2018): Ökoroutine. Damit wir tun, was wir für richtig halten. München: Oekom.
  • Largo, Remo H. (2017): Das passende Leben. Was unsere Individualität ausmacht und wie wir sie leben können. Frankfurt a. M.: S. Fischer.
  • Lessenich, Stephan (2016): Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. Berlin: Hanser.
  • Loske, Reinhard (2015): Politik der Zukunftsfähigkeit. Konturen einer Nachhaltikgeitswende. Frankfurt am M.: S. Fischer.
  • Nuscheler, Franz (2013): Good Governance. Studienbrief Nr. 0210 des Fernstudiengangs „Nachhaltige Entwicklungszusammenarbeit“ der TU Kaiserslautern.
  • Oltmer, Jochen (2012): Globale Migration. Geschichte und Gegenwart. Bonn: bpb.
  • Paech, Niko (2015): Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie. München: Oekom.
  • Piketty, Thomas (2014): Das Kapital im 21. Jahrhundert. München: C. H. Beck.
  • Pufé, Iris (2017): Nachhaltigkeit. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft.
  • Riekmann, Marco: Die Bedeutung von Bildung für eine nachhaltige Entwicklung für das Erreichen der Sustainable Development Goals (SDGs). In: ZEP (2‘2018). Münster: Waxmann. S. 4 - 10
  • Schellnhuber, Hans Joachim (2015): Selbstverbrennung. Die fatale Dreiecksbeziehung zwischen Klima, Mensch und Kohlenstoff. München: C. Bertelsmann.
  • Sommer, Bernd / Welzer, Harald (2014): Transformationsdesign. Wege in eine zukunftsfähige Moderne. München: Oekom.
  • WBGU (Hrsg.) (2014): Klimaschutz als Weltbürgerbewegung. Sondergutachten. Berlin: WBGU.
  • WBGU (Hrsg.) (2014): Zivilisatorischer Fortschritt innerhalb planetarischer Leitplanken. Ein Beitrag zur SDG-Debatte. Politikpappier 8. Berlin: WBGU.
  • WBGU (Hrsg.) (2008): Welt im Wandel. Sicherheitsrisiko Klimawandel. Hauptgutachten. Berlin, Heidelberg: Springer.
  • Wehling, Elisabeth (2017): Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht. Bonn: bpb.
  • Welzer, Harald (2014): Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand. Frankfurt a. M.: Fischer.